Verjazzter Jeannée

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Und Jeannée muss man doch ernstnehmen, zumindest irgendwie

„Abartiges Pensionssystem“

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o.r. O. Picek u.r. Prof. Marin

Viele internationale Studien von der EU bis zur OECD weisen Österreich ein schlechtes Zeugnis aus, wenn es um die Nachhaltigkeit unseres Pensionssystems geht. Zwei Experten, der Sozialwissenschaftler Prof. Bernd Marin und der Wirtschaftswissenschaftler Oliver Picek, debattierten über die gegenwärtige Situation des Pensionssystems und waren dabei nicht immer einer Meinung.

In einer Mercer-Studie rangiert Österreich im Bereich Nachhaltigkeit des Pensionssystems an 21. Stelle von 30 untersuchten Ländern. Teilen Sie diesen Befund?

Prof. Marin: Trotz aller Schwächen dieser Studie einer fachlich aufgemascherlten Beratungsfirma wie Mercer muss man sagen, dass der Schwachpunkt unseres Pensionssystems tatsächlich seine mangelnde Nachhaltigkeit ist. Wahr ist, wir bezahlen das hohe Leistungsniveau unserer Pensionen mit geringer Nachhaltigkeit.

Picek: Ich sehe die Mercer-Studie auch sehr kritisch. So sind die Indikatoren, so konstruiert, dass Systeme, die hauptsächlich auf die erste Säule abstellen schlechter bewertet werden, als solche die eine private Säule beinhalten. In der Mercer-Studie ist die steuerliche Förderung freiwilliger Arbeitnehmerbeiträge in kapitalgedeckten Systemen ein Kriterium nach dem bewertet wird. Dabei wird automatisch angenommen, dass wenn die private Säule stärker ist, das Pensionssystem besser aufgestellt.

Ist es also gut auf einer Säule zu stehen?

Prof. Marin: Nein. Praktisch haben wir bei 89 Prozent staatlicher Säule, 4,1 betrieblicher und 6,8 privater Säule ein ungleichgewichtiges, instabiles System. Die tragende erste Säule ist schwer angeschlagen und Österreich ein Nachzügler bei der Eigenvorsorge und vor allem bei der betrieblichen Altersvorsorge (bAV). Die Mehrheit der deutschen und der EU-Bürger hat eine bAV, in Holland und Schweden über 90%. Bei uns dagegen ist sie ein Minderheitenprogramm von 4-22%, eher für die „Oberen Zehntausend“ in staatsnahen Betrieben. Man sollte sie wie die Abfertigung neu demokratisieren, ein flächendeckendes Programm für alle mit Rechtsanspruch. Als elementares Arbeitnehmerrecht gehört es in jeden Kollektivvertrag, in alle Betriebsvereinbarungen und Einzelverträge, unabhängig von Weitblick und Großmut der Arbeitgeber.

Picek: Ich bin froh, dass wir den Trend, was den Ausbau der zweiten und dritten Säule betrifft nicht mitgemacht haben. Schon bei den Verwaltungskosten zeigt sich, dass das öffentliche Pensionssystem effizienter ist. Immer wenn man in den Kapitalmarkt einsteigt brauche ich Banken und Firmen, die entsprechende Produkte anbieten, Manager, die entlohnt werden und Werbung für die Produkte. Jeder zehnte Euro der Pensionseinnahmen geht dabei in die Verwaltung. Beim staatlich organisierten Umlageverfahren liegt dieser Satz bei etwa einem Prozent. Zusätzlich ist es bei der Förderung der dritten Säule immer dann problematisch, wenn man gleichzeitig die staatliche Säule zurückfährt, was in vielen Ländern passiert und man von den Menschen fordert, die öffentliche Vorsorge privat zu kompensieren. Bei einem Viertel der Bevölkerung sind jedoch die Einkommen so niedrig, dass gar nicht in private Vorsorge investiert werden kann. Schließlich ist die Situation für den Staatshaushalt nicht so dramatisch, wie oftmals gezeichnet wird. Eine Studie von WIFO zeigt, dass bis 2060 unsere Pensionskosten von 13,5% auf 15,2% des BIP ansteigen. Das wären dann sechs Milliarden Euro mehr. Das ist nicht nichts, aber es bedarf dabei nicht unbedingt eines Ausbaus der Betriebspensionen.

Marin: Es ist ein wenig verwegen zu sagen, im Jahre 2060 wird eh alles nicht mehr so arg sein. Ich werde, anders als Sie, dann mit Sicherheit nicht mehr am Leben sein, sehr wahrscheinlich aber im Jahr 2035. Und allein in den nächsten 15 Jahren gehen 1,9 Millionen Babyboomer in Pension, wir werden dann drei statt derzeit über zwei Millionen Pensionist*innen haben und eine Million über 80-Jährige, von den weitere hunderttausende das Pflegesystem beanspruchen werden. Bis zu einer Million Pensionistinnen wird armutsgefährdet sein, statt derzeit 200.000. Ein paar Milliarden Mehrkosten achselzuckend abzutun ist wenig beruhigend, vor allem wenn der nötige Bundeszu-schussbedarf bereits zwischen 2019 und 2024 um 55% steigen wird. Weitere alternsbezogene Kosten wie für Gesundheit und Langzeitpflege für chronisch Kranke und Betreuungsbedürftige steigen noch viel schneller als die Ausgaben für den Ruhestand. Wir stoßen hier an Grenzen. Diese ökonomischen Schocks sollten weder dramatisiert noch banalisiert werden.

Picek: Man darf nicht nur das Verhältnis sehen zwischen jenen die Erwerbstätig sind und jenen die Pensionen beziehen. Wie Sie wissen gibt es noch andere Gruppen die Transferleistungen beziehen. Das sind Jugendliche, Studenten, Invalide oder die Arbeitslosen als große Gruppe. Das Wichtigste ist daher die Senkung der Arbeitslosenquote. Wir müssen schauen, dass wir möglichst viele Leute in Jobs haben auch wegen der Pensionen. Es bedarf einer hohen Frauenerwerbsquote, sowie einer hohen Erwerbsquote der Älteren. Wenn sie heute als 55-jähriger ihren Job verlieren ist die Chance in den nächsten eineinviertel Jahren einen Job zu finden unter 20 Prozent. Solange wir so eine Situation haben, bedeutet das Pensionskürzung bzw. Altersarmut für die Betroffenen.

Marin: Ältere und vornehmlich auch Jüngere kriegen die Füße nicht auf den Boden des Arbeits-markts. Am meisten leiden derzeit die Unter-24-Jährigen, mit bis über 700 Prozent Zuwächsen bei Langzeitarbeitslosigkeit. Das Problem ist zum Teil hausgemacht. Dass in Österreich 90 Prozent vor dem 65. Lebensjahr in Pension gehen ist irre und etwa in nordischen Ländern völlig unbegreiflich: Wie kann denn ein Sozialstaat mit 90% Frühpensionisten überhaupt existieren?!? Fakt ist wir verbringen fast ein Vierteljahrhundert in Ausbildung über ein Vierteljahrhundert in Pension. Im Erwerbsalter dazwischen sind wir zusätzliche 13 bis 18 Jahre nicht in Arbeit. Arbeitslosigkeit. Inaktivität. Karenz, Krankenstände, Ferien und Urlaube, Kinderbetreuung, Berufsunfähigkeit, Invalidität. Es geht nicht um Alt gegen Jung, sondern um das was der Sozialdemokrat Karl Renner und der Liberale Ralf Dahrendorf als die Vorherrschaft von „Versorgungsklassen gegen Erwerbsklassen“ analysierten, die den Sozialstaat zerstört.

Ist der Ausweg die kapitalgedeckte Vorsorge?

Picek: Grundsätzlich sind die beiden Bereiche Kapitalmarktverfahren und Umlageverfahren äquivalent, wie wir aus der Altersversicherungstheorie wissen. Im Endeffekt zahlen immer die Jungen für die Alten. Egal ob das eine Leistung ist, die der Staat auszahlt, Gelder, die der Pensionist aus einer privaten Pensionsvorsorge bekommt, oder Sachleistungen, die sich der Pensionist gönnt. Wir kennen die Chancen am Aktienmarkt bei steigenden Kursen mit höheren Renditen, und die Chance damit höhere Pensionen zu erhalten, aber wir kennen eben auch das Risiko. Wenn ich z.B. in die private Zukunftsvorsorge 2007 investiert hätte, wäre ich heute noch im Minus. Und wenn nicht die Zentralbanken öfters in den letzten 30 Jahren den Markt gerettet hätten, hätten wir viel mehr und längere Börsenphasen mit Abschwung gehabt. Also die Pensionen marktabhängig zu machen ist gefährlich.

Marin: Es geht primär um Beitragsdeckung vs. ungedeckte Zahlungszusagen, nicht um Kapital-deckung vs. Umlage. Ein vorbildlich hybrides System ist Schweden. Es kombiniert nicht-finanzielle Beitragskonten auf Umlagebasis mit einer ergänzenden kapitalgedeckten Vorsorge. Entscheidend ist die Weiterentwicklung des Umlageverfahrens von zahlungsdefinierten zu nachhaltig beitragsdefi-nierten Systemen. Es gibt kein perfektes System, aber wenn etwas „close-to-best“ ist, dann das Notional Defined-Contribution NDC System wie in Schweden.

Picek: Egal ob Umlageverfahren oder Kapitaldeckungsverfahren, mit einer alternden Gesellschaft wären beide in der Krise, da gibt’s keinen Unterschied. Es sind vier Prozent des BIPs, die wir mehr für Alte ausgeben müssen. Als wir die Babyboomer-Generation hatten, haben wir Kindergärten und Schulen gebaut, jetzt müssen wir eben diese gesellschaftlichen Ressourcen auch monetär in Richtung Altersvorsorge verschieben. Das ist etwas, was in der Wirtschaft ständig stattfindet. Eine Kombination aus Privat und Staat in Organisation und Finanzierung ist dabei notwendig, wobei der Staat besser und effizienter in der Organisation ist.

Marin: Leider wurde das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat durch unhaltbare und daher ständig gebrochene Pensionsversprechen weitestgehend verspielt. So erhalten Durchschnittspensionisten – gesetzwidrig! – nicht einmal die Inflation abgegolten. „Zu“ gute Zusagen und Initialrenten werden hinterrücks durch schäbige Valorisierungen oder strengere Anspruchsvoraussetzungen wieder ausgehöhlt. Meine Generation hat zumindest 35 Prozent weniger Leistungen bekommen als uns zu Berufsbeginn versprochen wurde.

Was kann also gemacht werden, um das Pensionssystem ins Lot zu bekommen?

Marin: Wir brauchen, neben einer Konsolidierung und Sanierung der ersten Säule und der bAV auf EU-Standards vor allem viel höhere Beschäftigung bei Jüngeren und Älteren. Erwerbsarbeit von Risikogruppen unter 24 oder über 50 Jahren wäre durch das was ich Altersrisikotarifierung in der Sozialversicherungnenne zu fördern. Dabei würden genau nach Maßgabe altersspezifisch höherer Risken von Arbeitslosigkeit und der vier- bis fünffach höheren Erwerbslosigkeit Arbeitssuchende und ihre Arbeitsgeber von allen SV-Beiträgen (AL, KV, PV, usw.) entlastet („experience rating“). Damit würde die Rekrutierung Junger in den Arbeitsmarkt und das Behalten der Älteren für die Unternehmen und die Arbeitnehmer selbst sehr viel attraktiver. Lebenserwartungszuwächse müssten unbedingt in die Pensionsformel hineingerechnet werden, wie in den meisten Ländern. Das Fehlen einer solchen Pensionsautomatik bewirkt, dass bei uns das Pensionsantrittsalter heute genau so niedrig ist wie im Jahr 1976. Also 45 Jahre Stillstand – bei mehr als zehn Jahren längerem Leben. Wir müssen aber auch die Harmonisierung der Beamtenpensionen mit ASVG vorverlegen.

Picek: Ganz so negativ sehe ich das nicht. Die Beschäftigungsquote der Älteren ist angestiegen. Es gehen nicht mehr so viele Leute in Frühpension wie früher. Da sehen wir schon einen enormen Fortschritt zur Vergangenheit.

Marin: Mit Lupe, ja

Picek: Es kommt drauf an welche Statistik man sich ansieht. Aber zu 1976. Da muss man auch genau schauen. Denn wie hoch war damals die Frauenerwerbsquote und wie hoch ist sie heute? Es gibt heute natürlich viel mehr Beitragszahler als früher.

Marin: Aber auch sehr viel mehr Anspruchsberechtigte mit sehr viel höheren Ansprüchen.

Picek: Das ist in dem Fall trotzdem positiv, wenn es darum geht, dass die Jungen die realen Leistungen für die Alten erbringen, dann ist es natürlich sinnvoll, wenn die Jungen Frauen in dem Fall arbeiten gehen, um die Leistungen für die Alten zu erbringen und nicht daheim sind am Herd. Zur Frage: Wie kann man sich das noch leisten? Es braucht in jedem Fall Formen von Vermögensbesteuerung. Es kann nicht der ganze Sozialstaat hauptsächlich über Abgaben auf Arbeit finanziert werden. Da braucht man eine breitere Beitragsbasis: Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, Schenkungssteuer, höhere Steuern auf Grund und Boden, in diesem Bereich sind wir weit zurück im internationalen Vergleich. Damit könnte man auch den Bundeszuschuss zu den Pensionen entlasten. Dann hätte man eine fairere und breitere Finanzierung und eine Verbreiterung der Beitragsbasis. Das wäre die Richtung, in die man gehen sollte.

Marin: Ich bin da eher beim deutschen Wirtschaftsweisen Bert Rürup, der laufende Vermögens-besteuerung für unpraktisch, kostspielig, schwer einzutreiben hält. Wirksamer sei, einmal alle 20 bis 30 Jahre Vermögenstransfers durch Erbschaften umfassend zu besteuern und nicht jedes Jahr klein-kleinweise. Die einzige Vermögensbesteuerung in Österreich bisher war der Pflegeregress, den man im Wahlkampf 2017 populistisch abgeschafft hat. Kern und Kurz, Strache und Lunacek, alle gleichsam Hand in Hand, als sie innert weniger Tage eine Jahrhundertfehlentscheidung durch Verfassungsmehrheit praktisch unumkehrbar einzementierten. Jetzt haben wir statt dem Pflegeregress, in dem reiche Erblasser zu ihrer eigenen Pflege beitrugen, eine Erbenversicherung – und keine Pflegeversicherung. Absurd widersprüchlich.

Wäre die Erhöhung des Pensionsalters ein Schritt, auf den man sich einigen könnte?

Marin: Ja sicher. Zuallererst muss man das Pensionsalter für Frau und Mann angleichen. Derzeit sind wir bei Ländern wie Albanien oder Weißrussland. Zweitens muss man weitere Lebenserwartungszu-wächse automatisch miteinbeziehen, d.h. das gesetzliche Antrittsalter zwei bis drei Monate jährlich hinaufsetzen. Ich persönlich bin längerfristig für eine völlige Freigabe, d.h. Abschaffung des Pensionsalters. Im Kapitalismus gibt es kein Recht auf Arbeit und daher auch keinen Zwang zur Arbeit. Wenn jemand mit 52 nicht mehr arbeiten will, dann bitte. Es geht nur nicht, dass sein Nachbar seine Pension zahlen muss, daher versIcherungsmathematisch korrekte Abschläge. Nicht mehr hören kann ich den Unfug, „nur das faktische Pensionsalter muss dem gesetzlichen angenähert werden“. Natürlich muss gleichzeitig auch das gesetzliche Pensionsalter selbst hinaufgesetzt werden. Die meisten Leute passen ihr Verhalten sehr wohl an, etwa als das Pensionskonto eingeführt wurde. Heute bekommt man im Schnitt acht bis neun Prozent mehr für jedes Jahr, das man länger arbeitet, früher war das ein Prozent oder weniger. D.h. es zahlt sich erstmals seit 1945 aus, ein oder zwei Jahre dranzuhängen, weil es die Pensionen deutlich verbessert. Schritte in diese Richtung müsste man weitergehen.

Picek:. Ich unterscheide mich zu Hrn. Prof. Marin dahingehend, dass ich sage bevor wir das gesetzliche Antrittsalter erhöhen, müssen wir das faktische Antrittsalter heraufsetzen.

Marin: Das hören wir seit Jahrzehnten. Es genügt aber nicht das faktische dem gesetzlichen anzugleichen. Denn wir leben jedes Jahr ein Vierteljahr länger. Und das sollen wir ausnahmslos in Freizeit zubringen? Die Schweden sind für einen Mix 58/42 den ich für gut halte: wer hundert Tage länger lebt, soll 58 davon länger arbeiten – und höhere Zahlungen – haben. Die Dänen akzeptieren nur noch 100% längere Arbeitszeit. Wir hingegen, als gegenteiliges Extrem, wollen 100% aller Langlebigkeitszuwächse als Freizeit abgegolten, das ist abartig, nicht nachhaltig – und reduziert Pensionshöhe und –sicherheit.

Picek: Wenn ich statt mit 55 in Frühpension mit 65 in Pension gehe, dann ist ja auch schon viel gewonnen. Aber wir schaffen ja gar keine Wirtschaftsleistung, mit der alle bis 65 arbeiten können. Und wenn wir nach Corona mit Einsparungen beginnen, wird die Arbeitslosigkeit dauerhaft höher bleiben und das ist das wahre Gift für das Pensionssystem. Wir sollten jetzt schauen Konjunkturpakete zu schnüren, Investitionen erhöhen, um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Je höher die Produktivität umso besser ist die Absicherung für unser Pensionssystem. Wie gesagt, es ist nicht alles so dramatisch wie es oftmals beschrieben wird. Alle Studien, die den demografischen Wandel prophezeit haben, haben sich alle geirrt. Migrationen aus arabischen Ländern, osteuropäische Arbeitskräfte, deutsche Arbeitskräfte sind eingewandert, wo wir uns die Ausbildungskosten erspart haben. Österreich als attraktiver Wirtschaftsstandort, und daher Zuwanderungsmagnet bleibt, dass diese ganzen Prognosen vielleicht gar nicht in der Form eintreten werden.

Marin: Ich hab mich in meinen Vorhersagen sehr selten und eher geringfügig geirrt.

Prof. Bernd Marin: Sozialwissenschaftler

Seit 2016: Direktor des European Bureau for Policy Consulting and Social Research in Wien

Davor: Dekan am Institut für Politik und Sozialwissenschaften an der EU-Universität in Florenz, Executive Director des European Centre for Social Welfare Policy und Research in Wien und Mitglied verschiedener Pensionsreformkommissionen in Österreich.

Oliver Picek: PhD Economics

Seit 2019 Chefökonomist, Momentum Institut, Wien

Davor: Forscher am European Trade Union Institute in Brüssel, sowie Lehrtätigkeit an der WU-Wien und Berater des Ministeriums für Arbeit und Soziales

Kryptisches Wortgefecht

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Oben: Nicholas Schwarz Unten: Alfred Salzmann

Seit es den Bitcoin gibt sorgt er für Kontroverse. Die einen sehen in Kryptowährungen die Zukunft des Geldes, die anderen höchstens eine neue Tulpenblase. So war es auch in dieser heiß geführten Debatte. Auf der einen Seite Alfred Salzmann, ein Verfechter für Kryptowährungen, , der mit seinem Unternehmen CBNK in Kryptowährungen berät und auf der anderen Seite Nicholas Schwarz, Schweizer Vermögensberater, der mit seinem Unternehmen Fileado wohlhabende Privatkunden in Finanzfragen weit weg von Krypto unterstützt.

Der US-Finanzdienstleister Square hat bekanntgegeben, Bitcoins im Wert von 50 Mio. US-Dollar zu erwerben, und begründet das damit, dass der Bitcoin in Zukunft eine omnipräsente Währung sein wird. Teilen Sie diese Einschätzung?

Salzmann: Kryptowährungen werden die nächste Leitwährung sein. Es wird nicht ein Bitcoin oder ein Ethereum sein, sondern ein Stable Coin, der sich an eine Korbwährung anschließt und der vom IWF kontrolliert wird. Eine dezentrale Kryptowährung wie der Bitcoin wird mit Sicherheit keine Leitwährung werden. Der Ripple hätte von den derzeitigen Kryptowährungen am ehesten das Zeug dazu, weil dieser zentraler gesteuert ist als die anderen Kryptowährungen. Jedoch muss man sagen, dass Kryptowährungen noch immer in den Kinderschuhen stecken, und noch nicht einmal laufen gelernt haben.

Schwarz: Ich sehe das gleich wie sie, der Bitcoin als Zahlungssystem steckt in den Kinderschuhen. Zweifellos hat die dahinterstehende Technologie zu einem Innovationsschub bei Banken und beim SWIFT-System geführt. Als Zahlungsmittel sehe ich den Vorteil jedoch nicht unbedingt, schon aufgrund der nichtvorhandenen Stabilität. Wenn ich heute einen Kaffee mit Bitcoins kaufe, dann muss ich mir sicher sein, dass dieser morgen gleich viel wert ist und nicht vielleicht 20 Prozent mehr oder weniger. Ich könnte mir auch vorstellen, dass man in zehn oder zwanzig Jahren von staatlicher Seite die heutigen Währungen in diese Technologie einbettet. Aber der Staat muss die Kontrolle über die Währung behalten, um auf Volkswirtschaft, Zinspolitik und den Fremdwährungsverschiebungen Einfluss nehmen zu können. Der Staat muss auch in der Lage sein, kurzfristig Geld drucken zu können, um schlimmeres zu verhindern. Das sehen wir nicht zuletzt in der derzeitigen Krise.

Salzmann: Sie hätten also gerne, dass wenn sie heute mit dem Bitcoin bezahlen, dieser am nächsten Tag gleich viel wert ist. Sie vergessen aber, dass auch der Euro gegenüber dem Dollar täglich schwankt. Wenn sie heute in Euro gerechnet auf den US-Markt etwas kaufen, dann zahlen sie heute etwas mehr oder weniger als morgen. Dieses Argument läuft daher ins Leere. Wenn man z.B. den Yen mit dem Euro vergleicht, so gab es Zeiten, wo es Marktschwankungen von nahezu 50 Prozent gegeben hat. Selbstverständlich sind die Marktschwankungen momentan in den Kryptowährungen extrem. Aber nicht deswegen, weil der Bitcoin schlecht ist, sondern weil mit diesem Instrument spekuliert wird. Die Marktkapitalisierung aller Kryptowährungen ist derzeit so groß, wie die des zwölftgrößten Unternehmens der Welt. Also wir reden derzeit von einer absoluten Micky Maus-Börse. Daher kann der Kurs auch mit wenig Kapital einfach manipuliert werden. Mit dem US-Tether gibt es seit zwei Jahren eine Kryptowährung, die einen festen Wechselkurs zum US-Dollar hat. Wenn man also heute mit dem Tether kauft, dann ist er heute und auch morgen mit Sicherheit einen Dollar wert.

Schwarz: Sie haben die Marktmanipulation angesprochen. Der Währungsmarkt ist im Gegensatz zum Kryptomarkt sehr effizient. Ein Arbitrageur, der eine Marktmanipulation auf den Yen oder US-Dollar versucht, braucht unvorstellbar viel Geld. Das gleicht die Währungsschwankungen aus. Das macht es auch möglich, dass wir diesen Währungen als Zahlungsmittel vertrauen. Bitcoin ist neben dem Zahlungsmittel auch ein Spekulationsmittel. Der Markt ist nicht effizient, weil er schlichtweg zu klein ist. Der Bitcoin ist dabei wie eine Aktie, die sehr selten gehandelt wird. Diese Möglichkeit den Markt zu manipulieren, macht es für mich unmöglich die Kryptowährung als Zahlungsmittel zu gebrauchen, weil eben das Zahlungsmittel auch mitmanipuliert wird. Wenn wir sagen wir haben einen Bitcoin-Stable-Coin, der an einen US-Dollar gebunden ist, dann ist das wiederum ein Bruch mit der Bitcoin-Philosophie, die ja proklamiert, nicht von einer Stelle abhängig zu sein, die die Währung steuert. Damit fällt aber gleichzeitig der Grund weg, warum wir diese Kryptowährung erfunden haben.

Salzmann: Sie fühlen sich also sicherer in einer Währung, die von Zentralbanken gesteuert ist. Ihnen ist aber schon bewusst, sofern sie ihr Kapital nicht in einer systemrelevanten Bank aufbewahren, dass diese Bank unter Umständen von heute auf morgen in Konkurs gehen kann und sie ihre gesamten Ersparnisse mehr oder weniger in den Wind schreiben können und dass auf Knopfdruck 15 bis 20 Prozent des gesamten Veranlagungskapital enteignet werden kann, wie zwischen deutscher Regierung und dem IWF ausgehandelt wurde, oder dass wir in Österreich in den letzten hundert Jahren acht Enteignungen erlebt haben. Von was also sprechen wir? Also ich fühle mich in so einer Währung wie dem Euro jedenfalls nicht sicherer als in einer Kryptowährung. Mir ist bewusst die Kryptowährung kann verboten werden, mit sämtlichen Auswirkungen. Wenn ich mir aber heute die Zentralbanken anschaue, die Milliarden von Fiatgeld drucken, um systemrelevante Banken zu stützen, so habe ich Angst vor diesem System. Ich habe aber keine Angst vor Kryptowährungen. Denn zu einem Totalverlust kann es dabei nur dann kommen, wenn keiner mehr an Kryptowährungen glaubt.

Schwarz: Banken gehen Pleite, das stimmt. Bei Banken gibt es jedoch eine Einlagensicherung. Bei Bitcoin haben wir, soweit ich weiß, so eine Einlagensicherung nicht. Und es gibt genügend Fälle, die belegen, dass die Sicherheit auch bei Bitcoin nicht gewährleistet ist, wie z.B. beim Fall der Bitcoin-Börse Mount Gox, mit einem Schaden in Milliardenhöhe für Anleger. Welche von den zwei Währungen ist sicherer, Krypto oder Euro? Also ich setze auf den Euro. Es tut dem IWF und auch der Volkswirtschaft weniger weh, den Krypto abzuschalten als den Euro. Politisch würde das nie gehen?

Salzmann: Das haben meine Großeltern auch immer gesagt und in festverzinsliche Wertpapiere und Bankanleihen investiert, was sie später bereuten. Bei festverzinslichen Wertpapieren war es durch die Geldpresse mehrfach zu einer Geldentwertung gekommen. Ich habe mir hundert Jahre Geldentwicklung in Österreich angesehen und wenn man sich damit beschäftigt dann bekommt man Angst. Daher bin ich froh, dass es Kryptowährungen als Alternative gibt. Ich sage nicht, dass es ein Allheilmittel ist. In fünf Jahren, vielleicht schon in drei Jahren, bin ich überzeugt, dass es das E-Money gibt. Das passt auch zu den Philosophien unserer Regierungen, die Bargeld abschaffen wollen, um eine höhere Kontrolle zu gewährleisten. Wenn man weiß, welche Zentralbanken sich damit beschäftigen, so glaube ich, dass Kryptowährungen nicht in weiter, sondern sogar in naher Zukunft eine Leitwährung darstellen.

Schwarz: Als Anlageklasse ist es jedenfalls nicht ratsam sein ganzes Vermögen in Krypto zu investieren. Die Volatilitäten sind zu hoch, und senken den Spielraum für solche Investments. Es würde nur ein verschwindend kleiner Teil übrigbleiben, um in dieses Produkt investieren zu können. Bei meinen Kunden ist dies daher kein Thema. Aber auch unter den Vermögensberatern, wo manche mit Kryptowährungsinvestments in kurzer Zeit viel Geld verdient haben, gibt es einen Konsens darüber, dass dies eher mit Glück zu tun hat und sie stiegen daher relativ schnell aus dem Markt aus. Es kann ja auch in die andere Richtung gehen. Und das muss man dann seiner Ehefrau auch irgendwie erklären.

Salzmann: Volatilitäten sind Fluch und Segen. Bei Investitionen mit längerem Zeithorizont stören mich Volatilitäten weniger, insbesondere dann nicht, wenn ich durch die Volatilität einen Cost-Average-Effekt erzielen kann. Daher kann ein intelligenter Investor, ohne weiteres zehn bis 20 Prozent in Kryptowährungen investieren. Es gibt in jedem Markt Volatilität. Schauen wir uns z.B. die Tesla-Aktie an. Für die Kursexplosion fehlen mir Argumente, weiterhin in so eine Aktie zu investieren. Wenn eine Aktie ab einer bestimmten Größe in den S&P-500 aufgenommen werden muss, dann muss man wissen, dass sämtliche Investmentfonds, die in den S&P 500 investiert sind, auch die Tesla-Aktie kaufen müssen. Ob die nun überteuert ist oder nicht.

Schwarz: Aber bei Tesla kann ich eine Fundamentalanalyse machen. Ich kann mir die Bilanzen ansehen, ich kann mir überlegen wie groß ist der Markt in den USA. Was sind die Strategien. Welche Konkurrenten gibt es. Wie groß ist der Vorsprung den Tesla gegenüber den Mitbewerbern hat. Aus all diesen Informationen kann ich der Tesla-Aktie einen Wert geben. Aber eine Fundamentalanalyse beim Bitcoin?

Salzmann: Wie weit kommen Sie mit einer Fundamentalanalyse bei Tesla, wenn Tesla nach Marktkapitalisierung nun um einiges wertvoller ist als Daimler, BMW und Audi zusammen, obwohl Tesla in diesem Jahr zum ersten Mal in drei Quartalen positive Ergebnisse erzielt hat. Da stimmt etwas mit dieser gesamten Analyse nicht. Der innere Wert des Bitcoins wird einfach dadurch bestimmt, wieviel Energie ein Miner benötigt, um einen Bitcoin zu minen. Derzeit liegen die Kosten, zwischen 8 und 10.000 Dollar. Unter diese Produktionskosten wird der Bitcoin vielleicht kurzfristig, aber mittelfristig mit Sicherheit nicht fallen. Damit weiß ich, die untere Range ist 8.000 US-Dollar. Jetzt gibt es den inneren Wert der zwischen 8 und 10.000 US-Dollar und dann haben wir auch noch Angebote und Nachfrage. Das Schöne dabei ist: Es lässt sich grundsätzlich seit Bestehen von Bitcoin jede einzelne Transaktion nachvollziehen. Es gibt daher mittlerweile sehr viele Privatinvestoren, die an Bitcoin glauben. Einer der größten davon meint sogar, dass der Bitcoin bis zum Jahr 2023 auf über 250.000 Dollar ansteigen wird. Also ich würde mich freuen. 

Schwarz: Ich kann mich dann aber nicht mehr auf 2023 freuen, wenn die Stromrechnung so teuer wird.

Salzmann: Mit was fährt eigentlich Tesla?

Was ist der Nutzen von Kryptowährungen für die Volkswirtschaft?

Salzmann: Der Nutzen für die Volkswirtschaft ist in erster Linie, die Unabhängigkeit von Regierungen. Ich kann mein Geld schnell über alle Grenzen hinweg transferieren, bezahlen und mitnehmen und meine Bitcoins in die jeweilige Landeswährung umtauschen. Ich kann z.B. meine Bitcoins nach Afrika transferieren. Ein riesiger Vorteil, denn dort gibt es fast keine Banken, aber fast jeder Afrikaner besitzt ein Smartphone, mit dem er die Bitcoins ausgeben und umtauschen kann. Ich habe also sehr viele Vorteile. Ich kann die Bitcoins aufbewahren, ohne Angst zu haben, dass mir die Regierung dieses Geld wegnimmt. Wenn man dann den Bitcoin mit ähnlichen Assetklassen vergleicht, dann würde ich gerne wissen, wo liegt im Vergleich dazu der Innere Wert und volkswirtschaftliche Nutzen von Gold außer, dass man es gerne hat?

Schwarz: Der Vergleich mit Gold hinkt ein bisschen. Gold wird in der Industrie gebraucht, wie z.B. Halbleiterindustrie etc. Gold ist bei vielen Vermögensverwaltern noch im Kopf, als Anlageklasse und auch viele Kunden verstehen Gold als Anlageklasse zur Absicherung gegen Inflation und im Notfall. Wenn man ein Doomsday-Bild zeichnet und ein Meteorit schlägt ein und der Strom ist weg, wird es wohl schwer z.B. mit Krypto-Currencys zu handeln. Und zum Nutzen von Kryptocurrency: Wenn ich ins Ausland gehe, dann zahle ich mit der Kreditkarte, wenn ich Cash brauche dann kann ich mit der Maestro Karte vom Bankomaten das Geld abheben, ähnlich wie es mit Bitcoin möglich ist. Da sehe ich jetzt nicht einen riesigen Vorteil. Schlussendlich versucht man auch die Kryptowährung so bequem zu gestalten, wie beim Einsatz der Maestro-Karte, z.B. bei einem Supermarkt-Einkauf. Die Krypto-Karte wäre da nicht schneller. Der einzige Vorteil, den ich sehe, ist dass ich außerhalb des Zentralbankensystems agiere, und dieses Vertrauensverhältnis in eine zentralisierte Steuerung nicht brauche.

Salzmann: Eine Währung hängt immer stark vom Glauben und Vertrauen ab, egal ob Krypto oder Landeswährung. Das sieht man z.B. anhand von Venezuela, wo der Wert der Währung Richtung Null geht, oder die Argentinien-Anleihe, die vom Triple A zum Junk-Bond verfallen ist. Wenn niemand mehr an Kryptowährung glaubt, dann wäre auch der Krypto am Ende.

Schwarz: Ich vertraue der normalen Währung. Mein Vertrauen in die Kryptowährungen ist nicht sehr hoch, aber das kann sicher noch besser werden.

Was sagen Sie einem Kunden, der zu ihnen kommt, und in Kryptowährungen investieren will?

Salzmann: Ich als Vermögensberater darf diesbezüglich nicht beraten. Für den Kunden gibt es daher keine Möglichkeit sich neutral über Kryptowährungen zu informieren, was sehr gefährlich ist. Weil die Privatinvestoren vielfach Opfer von Fehlinformationen werden und sich für falsche Kryptowährungen entscheiden. Der Kunde macht aber keinen großen Fehler, wenn er einen Betrag in die zehn größten Kryptowährungen, mit einigen Abstrichen, wie US-Tether oder Ripple, investiert.

Schwarz: Wenn ein Kunde zu mir kommt und in Kryptowährungen anlegen will, dann muss ich ihm sagen, gehen sie zu Hrn. Salzmann, das ist nicht mein Ding.

Luxusyacht leert Fäkalien in die Adria

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ABBA: Verdammt und verehrt

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Debatte über ABBA
g.l. M.Amanshauser, g.r. T. Königshofer, i.d.M. C. Sec

Der Autor Martin Amanshauser erzählt davon, wie die schwedische Popgruppe ABBA sein Beziehungsleben schon in frühester Jugend determinierte und warum er der Band heute noch die Schuld für eine Rechnung in der Höhe von 286 Euro gibt. Aber wir lernen auch, warum ABBA heute über eine Unzahl von Glühbirnen besitzt und warum die Band in ihrer besten Zeit so einzigartig war, obwohl Alice Schwarzer keine Freude haben würde mit so manchen Textzeilen. Schlussendlich erleben wir, wie die Diskussion mit Thomas Königshofer, Amanshauser dazu bringt, ein wenig von seinem Hass gegenüber der Band zu verlieren.

Unbedeutende Nachbetrachtung

ABBA, das ist auch eine Wiederauferstehungsgeschichte oder eine Wiederentdeckungsgeschichte, oder ein Beispiel für Geschmacksmanipulation. Amanshauser erzählt über eine Zeit, in der ABBA einfach uncool waren. Egal ob man damals das Köln Concert von Keith Jarrett oder The Dark Side of The Moon unter den Achseln trug, wenn man zu einer Party geladen war, alles war gut. Wer sich jedoch in den 80ern traute mit ABBA heranzurücken, der setzte seine soziale Existenz aufs Spiel. ABBA-Platten auf Partys waren tabu, zumindest in meiner Erinnerung. Das soll nicht heißen, dass die Partys auf denen ich war besser waren, als die von Amanshauser, der ja um drei Uhr morgens die Partys verlassen musste, weil dann ABBA gespielt wurde. Auch meine eigenen ersten Erinnerungen mit ABBA waren von traumatischer Natur. Eislaufen als Kind beim Engelmann. Ich war schlecht in diesem Sport und blieb es auch. Trotz aller kindlichen Lernwilligkeit war der Lernerfolg am Eis aufs gradaus vorwärtsfahren beschränkt. Und bei dieser desillusionierenden Erfahrung persönlicher Begrenztheit dröhnte in meiner Erinnerung fast durchgehend ABBA abwechselnd mit Boney M. aus den Boxen der Eislauflautsprecher. Für mich waren ABBA danach in den nächsten fast 30 Jahren eine Randerscheinung, die nur gelegentlich im Radio spielte und bei Autofahrten meine Zeit für „bessere“ Musik vergeudete. Die Renaissance begann bei mir erst lange nach dem Musical und zwar als ABBA von Hollywood entdeckt wurde. Mittlerweile Vater geworden war ich durch sie in die Falle getappt. Die Begeisterung der Kinder schlug auf mich über. Plötzlich erkannte ich die Qualität der Musik, die Raffinesse der Songs. Ich war nicht der einzige. Der Late-Adopter ist ein ABBA-Phänomen. Was spätestens nach dem Film kam, war eine Phase des weltweiten Triumphs, der bis heute anhält. ABBA wurden plötzlich als Genies abgefeiert und jeder, der was auf sich hielt war gezwungen dazu, ABBA zu mögen, sonst lief er Gefahr als Banause zu enden. Die jungen DJs stahlen die ABBA-Platten aus den Schränken ihrer spießigen Eltern, um die Partys in Schwung zu bringen. Eine objektive Bewertung der Musik fördert dieses radikale Schwenken von einem Extrem zum anderen nicht gerade und wird daher wohl noch weitere 20 Jahre auf sich warten lassen. Erst wenn ABBA industriell in ruhigere Gewässer kommt, können wir vorurteilsfrei darüber palavern. Das kann jedoch noch lange dauern. Denn wenn einmal diese Welle verebbt, könnte die sich zum Ende hinneigende Lebenszeit für neue Wellen der Manie sorgen. Verebbt die Welle jedoch in den nächsten sagen wir 100 Jahren noch immer nicht, sollte man sich ganz vorurteilsfrei fragen, ob es sich wirklich um Jahrhundertmusik handelt.